Looking for Medusa

Intro

Nina M.W. Queissner und Linda Weiß verknüpfen in ihrer Installation den Mythos der Medusa aus Ovids Metamorphosen mit der gegenwärtigen Bedrohung der Korallen durch den Menschen.
Ovid erklärt die Entstehung der Korallen aus Meerespflanzen am Ufer, die vom Blut der enthaupteten Medusa durchtränkt wurden und daher zu Stein erstarrten. Dem Riff und der Medusa eine Stimme gebend, erinnern die Künstler:innen an die geteilte Verantwortung für das in diesen Geschichten jeweils implizierte Leid: an die stumme Hingabe der enthaupteten Medusa an das Patriarchat ebenso wie an die dramatischen Konsequenzen des versäumten Klimaschutzes.

Dabei verwebt Looking for Medusa Bezüge zwischen Kosmologien und Ökosystemen zu einem experimentellen Habitat für spekulative künftige Korallenwesen. Viele der Materialien stammen aus dem Meer: Seegras, Salzablagerungen, Fieldrecordings von Korallenriffen und Bootsmotoren. Sie schaffen einerseits einen Schutzraum für unsere Sinneserfahrung. Andererseits entsteht eine gespannte Atmosphäre, die uns hellhörig werden lässt für die Reibungen zwischen unterschiedlichen, menschlichen und nicht-menschlichen Lebensformen.

In their installation, Nina M.W. Queissner and Linda Weiß draw on the myth of Medusa from Ovid’s Metamorphoses to explore the current threats to coral reefs caused by humans. Ovid traces the origins of coral to seaweed washed up on the shore, which turned to stone after being soaked with blood from Medusa’s decapitated head. Giving voice both to the reef and Medusa, the artists appeal to our collective responsibility for the suffering implied in each narrative: the decapitation and silent resignation of Medusa to the patriarchy as well as the dramatic consequences of the failure to respond to the climate crisis.

Crafting an alternative narrative, Looking for Medusa threads together elements from cosmological and ecological systems into an experimental habitat for speculative future coral beings. Many of the materials derive from the sea: seaweed, salt deposits, field recordings of coral reefs and boat engines. While creating a protective space for multisensory experience, these elements also generate a tense atmosphere that heightens our sensitivity to the friction between different human and non-human lifeforms.

Text Ellen Wagner

2. Juni 2023 bis 15. Januar 2024, Senckenberg Naturmuseum, Frankfurt

Raumklang-Installation, 5 Kanäle, Mixed Media

Nahfeldmonitore, Koaxiallautsprecher, Körperschallwandler.
Unterwasser-Tonaufnahmen: Korallenriffe (Rotes Meer, Ägypten) sowie des Schiffsverkehrs auf dem Main und dem Ärmelkanal der Alabasterküste; weitere Tonaufnahmen: Backpulver in Wasser, heißes Öl, Eiswürfel, Kristallglas und Wasser, Kaulquappen, Regen auf Polyamid u.a., Synthesizer, Melodica, Sansa.

Keramik/Gips mit Kalk-/Salzverbindungen, organisches und synthetisches Leder/Textil, Gummi, Seegras, Yogamatte, Schleppnetze.

Audio-visual installation, 5 channels, mixed media

Near field monitors, coaxial loudspeakers, solid state transducer
Underwater sound recordings: Coral reefs (Red Sea, Egypt), shipping traffic on the Main River and the English Channel of the Alabaster Coast; additional sound. recordings: Baking soda in water, hot oil, ice cubes, crystal glass and water, tadpoles, rain on polyamide, etc., synthesizer, melodica, Sansa.

Ceramics/gypsum with lime/salt compounds, organic and synthetic leather/textile, rubber, seaweed, yoga mat, drag nets.

“Aber der Held schöpft Wasser und wäscht sich die siegenden Hände, Und dass nicht in dem Sand das Schlangengesicht er versehre, Deckt er den Boden mit Laub, und im Meer gewachsene Stengel Streut er und legt darauf das Haupt der Phorkide Medusa. Sieh, das Gewächs, noch frisch und belebt von saugendem Marke, Litt von dem Ungetüm und erstarrte von seiner Berührung Und nahm auf in Gezweig und Laub fremdartige Härte. Aber die Nymphen des Meers versuchen die Wundererscheinung Auch an anderem Gesträuch und freuen sich gleichen Erfolges, Streun auch Samen davon in die Flut zu öfteren Malen. Jetzt noch immer verbleibt dieselbe Natur den Korallen, Dass an berührender Luft sie Härte gewinnen, und was erst Strauch war unten im Meer, zu Stein wird über dem Meere.”

Publius Ovidius Naso, Metamorphosen – Verwandlungen 4. Buch: 11. Corallium, 740-752

Eintauchen

Auf einer mit Seegras gepolsterten Liegefläche können Besucher*innen dokumentarischen und imaginären Unterwasserklängen lauschen, die Gerüche der getrockneten Wasserpflanzen wahrnehmen und fühlen, wie sich der Klang per Körperschallwandler auf dem Untergrund und dem eigenen Körper ausbreitet. Über ihren Köpfen schweben auf zwei transparenten Platten Keramiken, deren Formen Wasserlebewesen nachempfunden sind. Die Objekte bilden teils farbige Salzkristalle auf der Oberfläche aus, sodass bizarre Muster und Strukturen auf dem Glas entstehen. Umgeben ist dieser Ort in der Korallenriff-Inszenierung des Museums von großen Wandbehängen – besetzt mit phantastischen, organisch anmutenden Strukturen aus Gips, Textil und Leder. Hier und da wirkt es, als ob der Kopf einer Medusa aus dem fleischfarbenen Untergrund hervorbricht. Aus verborgenen Lautsprechern sind Wasserklänge zu hören.

„Für sich genommen ist das Korallenriff eine visuell sehr ausdrucksstarke Skulptur, eine hyperrealistische Konstruktion des Ökosystems Riff in verschiedenen Zuständen. Queissner und Weiß stellen sich der ungewöhnlichen Situation, nicht in einem unbesetzten Ausstellungsraum ein Projekt zu inszenieren. Stattdessen bauen sie neue Lesarten und ‚Kulturen der Natur‘ in den Raum ein. Sie bieten mit „Looking for Medusa“ verschiedene Zugänge zum Verständnis von Korallenriffen an“, sagt Museumsdirektorin Dr. Brigitte Franzen und fährt fort: „Plötzlich ist man umgeben von besonderen Klängen. Wandbehänge bilden einen Raum im Raum, in dem sich phantastische, mit Salz bewachsene Korallenwesen aufhalten. Die Installation hat eine außergewöhnliche Wirkung und ich freue mich darauf zu erleben, wie Besucher*innen den Raum für sich nutzen und den Anstoß aufnehmen, sich mit der Natur der Riffe und deren Interpretationen auseinanderzusetzen.“

Quelle: Pressetext, Senckenberg Naturmuseum

REINHÖREN:

Klang-
Komposition

Ausstellungs-
programm

Neben öffentlichen Führungen, einer museumspädagogischen Themenstation fanden Workshops, Screenings und ein abschließendes Gespräch statt.

Mehrteiliges Screening
In Kooperation mit Kunstverein Mañana Bold e.V.

Teil 1: HYDROZONEN I: Uferferne
Der Filmabend thematisiert mythologische Vorstellungen von Weiblichkeit und dem Monströsen: Figuren wie Medusa oder Undine treffen auf die Frage, welche Stimme diesen Personen und Gestalten – in einer patriarchal geprägten Welt – zugesprochen oder auch versagt wird. In Kooperation mit dem Kunstverein Mañana Bold e.V werden Filme von Friedl vom Gröller, Anette C. Halm, Cecelia Condit und Regina de Miguel gezeigt.

Workshopauswahl:

  • Ökologie für die Ohren: Klangworkshop für Jugendliche mit Künstlerin Nina M.W. Queissner

  • Auf den Spuren der Kristalle: Workshop für Kinder von 6–10 Jahren, mit der Künstlerin Linda Weiß und dem Materialwissenschaftler Wolfgang Olbrich

Gespräch zur Finissage
mit Katharina Hoppe, Florian D. Schneider, Julia Katharina Thiemann

Für die künstlerische Intervention Looking for Medusa verknüpfen Linda Weiß und Nina M.W. Queissner natur- und kulturwissenschaftliche Recherche, um sich dem Lebensraum der Korallen anzunähern. Das Gespräch mit der Soziologin Katharina Hoppe, der Kunstwissenschaftlerin und Kuratorin Julia Katharina Thiemann sowie dem Biologen Florian Schneider widmet sich nun der Frage, wie unterschiedliche Wissensformen, vor allem im Medium der Kunst, zusammenkommen können.

Mit welcher Wirkung können sie gemeinsam Themen vermitteln? Wie kann es gelingen, Lebensräume erfahrbar zu machen, die sich der menschlichen Wahrnehmung entziehen? Welche kuratorischen Strategien gibt es, um Wissenschaft und Imagination zu verbinden? Und welche Bedeutung kommt dem transdisziplinären Austausch dabei zu? Das Gespräch findet in Anwesenheit der Künstlerinnen und Kuratorinnen statt.

„Haraway zufolge gehen ethisches Verstehen und Erkennen von Respekt als Praxis aktiven Zurückschauens aus, in welcher alle Beteiligten sich verändern oder zuallererst konstituieren: ‚Respekt ist respicere – zurückschauen, jemandem Achtung entgegenbringen, verstehen, dass den Blick des anderen zu kreuzen die Bedingung dafür bedeutet, selbst ein Gesicht zu haben.‘ (WSM: 88; Hervorh. Im Orig.) Der Gedanke, dass es ethische Beziehungen – und darin eben besonders Begegnungen mit Andersheit – sind, die Subjektivität konstituieren, erlaubt es, Verantwortung weniger als Zustand zu verstehen, der Subjekten zugeschrieben und zugerechnet wird, denn als Praxis und Prozess des Antwortens.“

Katharina Hoppe, Donna Haraway zur Einführung, Hamburg 2022. 

Referenzen &
Credits

Die Raumklang-Installation Looking for Medusa ist eine Ausstellungserweiterung im Rahmen von Triff das Riff! im Senckenberg Naturmuseum Frankfurt. Für das Projekt Triff das Riff! fertigte der Künstler Markus Zimmermann eine mehrteilige, wandelbare Displaystruktur an, welche u. a. mit Looking for Medusa bespielt wurde. Das Möbel “Transformer” wurde für die Ausstellungsdauer zu einer Vitrine geschlossen und gefüllt mit Romanen, wissenschaftlichen Aufsätzen, Bildmaterial aus dem Museum, Präparaten der Sammlung, Materialstudien- und -experimenten u.v.m.
Die Außenseite des Transformers wurde zur digitalen Oberfläche und holte den Blog zur Arbeit in den Ausstellungsraum. QR-Codes zu Vorträgen und Podcasts der Senckenberg Forschungsgruppe schufen ein Angebot über die Ausstellung hinaus. Die Hocker der Recherchestation wurden zu Hörstationen umgebaut.

Das Projekt wird aus Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung gefördert.
Weitere Informationen stehen in der Pressemappe des Senckenberg Naturmuseums bereit.

Quellenauswahl & Dank:
Donna Haraway, Staying with the Trouble, 2016
Natalie Haynes, Stone Blind – Der Blick der Medusa, 2022
Katharina Hoppe & Thomas Lemke, Neue Materialismen zur Einführung, 2021
N. K. Jemisin, The Inheritance Trilogy, 2010-2011
Elspeth Probyn, Eating the Ocean, 2016
Julia K. Thiemann, Denken wie ein Oktopus, oder: Tentakuläres Begreifen, 2021

Vortrag von Prof. Dr. Antje Boetius (AWI), The changing arctic, 2023
Vortrag von Dr. Felix Christopher Mark, Wenn die Meere sauer werden, 2023
Paper von Hagen M. Gegner, Maren Ziegler, Nils Rädecker, Carol Buitrago-López, Manuel Aranda, Christian R. Voolstra; High salinity conveys thermotolerance in the coral model Aiptasia. Biol Open 15 December 2017; 6 (12): 1943–1948. doi: https://doi.org/10.1242/bio.028878
Podcast von Helga Utz, 16 – Medusa stirbt, 2021
Podcast von #diedreimjf33, The Salty One – Krebse und Korallen in ihrer salzigen Umwelt, 2022

Ein großes Dankeschön an Ellen Wagner (Kuratorin), Wolfgang Olbrich (Materialwissenschaften), Sebastian Ferse (ZMT Bremen).

Alle Inspirationen zur Entwicklung der Arbeit sind im tempe-corals Blog online archiviert.

Foto-Credits: Wolfgang Günzel, Frithjofs Mohr, Joëlle Pidoux, Linda Weiß

„Was geschah mit dem Haupt der Medusa? Das ist der letzte Teil der Geschichte. Das Gorgoneion wurde schließlich ins Meer hinausgespült. Nun ist es von versteinerten Algen und Korallen überzogen, die eine harte Kruste um das Gorgoneion gelegt haben. Es ist in den Wellen versunken, und niemand kann es jetzt noch erreichen, nicht einmal die Geschöpfe des Meeres. Es hat seine Augen ein letztes Mal geschlossen.“

Natalie Haynes, Blind Stone. Der Blick der Medusa, München 2023.